Übertragung und Gegenübertragung
Was Führungskräfte von Maries Klassenfahrt lernen können
Die Klassenfahrt, die Marie so schnell nicht vergisst
Für die meisten von uns ist die erste Klassenfahrt in der Grundschule ein Erlebnis, an das wir uns gerne erinnern. Unvergessen sind die Abende, an denen wir uns vorm Einschlafen noch Geheimnisse zugeflüstert haben. Bei Marie* hingegen ist das nicht so, denn sie muss alle drei Nächte alleine in einem Zimmer schlafen. Diese Strafe verhängt die junge Klassenlehrerin für ein angebliches Fehlverhalten. Versetzen wir uns in Maries Lage: Sie ist neun Jahre alt und teilt sich zuhause ein Zimmer mit ihrer Schwester. Hinzu kommen die fremde Umgebung und die unbekannten Geräusche, wenn sie nachts allein im Dunklen liegt. Überdies fühlt sie sich ungerecht behandelt, denn sie ist sich keiner Schuld bewusst. Letztlich sieht Marie ihre Vermutung, dass die Lehrerin sie einfach nicht mag, bestätigt. „Sie mögen mich nicht“, das hat sie der Lehrerin beim letzten Elternsprechtag gesagt. Kaum verwunderlich, dass Marie sich jeden Abend in den Schlaf weint.
Ein Gespräch, das sich Maries Mutter hätte sparen können
Maries Mutter fällt aus allen Wolken, als ihre Tochter ihr nach der Klassenfahrt tränenreich von der Strafe und den einsamen Nächten berichtet. Auch nach Tagen ist das Erlebnis immer wieder ein Thema. Die Mutter bittet die Lehrerin deshalb um ein Gespräch, an dem auch die Direktorin der Grundschule teilnimmt. Sie kommt jedoch frustriert aus dem Termin zurück. Das hat drei Gründe: Erstens kann (oder will?) die Lehrerin die Frage nach dem Anlass für die Bestrafung nicht beantworten. Zweitens zweifelt die Lehrerin nicht an der Verhältnismäßigkeit der Bestrafung. Nur am Ende des Gesprächs räumt sie ein, dass sie Marie in der letzten Nacht vielleicht nicht mehr hätte allein schlafen lassen sollen. Drittens moderiert die Direktorin das Gespräch nicht neutral. Stattdessen stellt sie durchgehend auf die Seite der Lehrerin. Schlussendlich ist Maries Mutter froh, dass die Grundschulzeit bald vorbei ist und der Schulwechsel ansteht.
Was Führungskräfte daraus lernen können
Fachliche Kompetenz reicht nicht aus
Ob Lehrkraft in der Schule oder Führungskraft in einem Unternehmen – um erfolgreich zu sein, brauchen beide fachliche, soziale und menschliche Kompetenzen. Beide müssen mit ihrer Persönlichkeit und Kompetenz Autorität ausstrahlen, ohne autoritär zu handeln. Beide müssen die Bedürfnisse und Erwartungen von Schülern und Mitarbeitern berücksichtigen. Diese Herausforderung wird von angehenden Lehrern häufig genauso unterschätzt wie von Führungsnachwuchskräften.
Wem der Chef nicht passt, der geht
Durch den anstehenden Wechsel zur weiterführenden Schule löst sich Maries Problem mit der Lehrerin von selbst. Oder aus der anderen Perspektive: Damit ist das Problem namens Marie für die Lehrerin nicht mehr vorhanden. Was Schüler manchmal lange aushalten müssen, lassen sich Mitarbeitende in den seltensten Fällen gefallen. Denn ein Arbeitsplatz lässt sich meist einfacher wechseln als die Schule – besonders in Zeiten von Fachkräftemangel. Die Reaktionen auf Willkür, Ungerechtigkeit und das Gefühl von Hilflosigkeit lauten Dienst nach Vorschrift, Krankschreibung und (innere) Kündigung. Denn Mitarbeitende kündigen selten ihren Job, sie kündigen ihren Chef.
Übertragung und Gegenübertragung: Wie Übertragungsphänomene wirken
Aus meiner Sicht war die Bestrafung von Marie völlig unverhältnismäßig. Wir können nur Vermutungen anstellen, wo die Gründe für das Verhalten der Lehrerin liegen. Eine der möglichen Ursachen könnte die sogenannte Übertragung sein. Übertragungsphänomene gehören zum Leben dazu. Auch zum Leben einer jeden Führungskraft. Übertragung bedeutet, dass wir vergangene Erfahrungen unbewusst in die Gegenwart übertragen. Jedes aktuelle Erleben hat also immer eine Verbindung zu unserer Erinnerung. Übertragungen sind notwendig, damit wir uns im Alltag zurechtfinden. Denn unsere Erfahrungen und vertrauten Konfliktlösungen helfen uns bei der Bewältigung neuer Situationen. Anders ist es jedoch, wenn es zu einer unbewussten Übertragung von negativen Gefühlen kommt. Dann nehmen wir die Realität negativ verzerrt wahr und reagieren unangemessen auf die aktuelle Situation. Das wiederum wirkt sich natürlich negativ auf die Beziehung zu unserem Gegenüber aus.
Unsere Vergangenheit entscheidet über Sympathie und Antipathie
Das haben wir wohl alle schon selbst erlebt: Wir treffen jemanden zum ersten Mal und können ihn auf Anhieb nicht leiden. Und das, obwohl wir ihn noch gar nicht kennen. Dabei ist eindeutig eine Übertragung im Spiel. In unserem Gehirn läuft eine Ähnlichkeitssuche mit Menschen aus unserer Vergangenheit ab. Bei einem Treffer entsteht dann spontane Sympathie oder Antipathie. Natürlich ist das der Person gegenüber nicht fair, aber so funktioniert unser Gehirn nun einmal – es sucht nach Bekanntem und Ähnlichem.
Meine Empfehlung: Selbstreflexion
Das Wissen über die Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung sollte nicht nur jede Lehrkraft haben. Auch Führungskräfte sollten sich der Gefahr von Übertragungen bewusst sein. Stellen Sie sich vor, Sie treffen als neue Führungskraft auf einen Mitarbeiter, der bei Ihnen ungewollt alte Beziehungsmuster reaktiviert. Keine guten Voraussetzungen für eine produktive Zusammenarbeit, denn der Mitarbeiter wiederum reagiert auf Ihr Verhalten. Hilfreich ist allein die Selbstreflexion, in der Sie ihr eigenes Verhalten hinterfragen. Wenn Sie dabei eine Übertragung aufdecken, ist der erste Schritt getan hin zu einer gelungenen Kommunikation.
*Marie hat in Wirklichkeit einen anderen Namen. Ich drücke dem liebenswerten Mädchen die Daumen: Du überstehst die letzten sechs Monate an der Grundschule ohne Tränen und Dein nächster Klassenlehrer ist genau auf Deiner Wellenlänge.